Dieses Glas habe ich geklaut.
Und das kam so: Auftritt im Hamburger Rathaus. In der großen Eingangshalle. „Lange Nacht der Museen“ – ich wurde gefragt, dort zunächst am Anfang und später zwischen zwei Live-Bands zu spielen. Als DJ. Eigentlich keine große Sache. Routine.
Mittags Soundcheck. Mein Setup gestanden. Musikauswahl vorbereitet. Aber dann die bösen Überraschungen: Festplatte mit der Musik wird nicht erkannt. Schneller Aufbau eigentlich mein Steckenpferd. Weil wenn Du als Kind immer Filme schaust, wo ein Spezialkommando anrückt und in Windeseile die Abhörstation, die Raketenabschussrampe oder die Computer zum Umgehen der Sicherheitseinrichtungen aufbaut, dann willst Du als DJ jetzt nicht die Festplatte zwanzig Mal neu verbinden müssen, damit sie einmal erkannt wird. Aber erst beim einundzwanzigsten Mal Erfolg. Und dann die Musikauswahl für den Raum völlig daneben. Schwer in Worte zu fassen: Beats im Stil der „Beastie Boys“ völlig falsch. Der Raum zu groß, die Stimmung zu sanft, der Hall zu lang. Die Musikauswahl muss also völlig überdacht werden. Und natürlich die Technik. Weil wenn der zweite Block zwischen zwei Bands stattfinden soll hast Du keine Zeit für einundzwanzig Neuverbindungen der Festplatte. Soundcheck also eher Schuß vor den Bug als Soundcheck.
Mit diesen Gedanken den Bus nach Hause genommen. Zwei Stunden, bevor ich wieder los muss zum Auftritt. Verdammt! Natürlich zunächst Daten von externer Festplatte auf PC überspielt. Geschätzte Zeit: Eine Stunde. Dann Musikauswahl. Spontane Intuition: Vivaldi könnte in diesem Ambiente funktionieren. Also die Jahreszeiten importiert. Tempi angepaßt. Effekte vorbereitet. Loops definiert. Zeit ist um – los zum Auftritt.
„Äh, Nils, wir haben da ein Problem. Band Nummer zwei kommt nun doch nicht. Kannst Du nach der ersten Band einfach doppelt so lang spielen? Und, äh, Band drei, unser Hauptact, kommt auch nicht – könntest Du da auch noch Musik machen?“
Was natürlich trotzdem bedeutet hätte: Zweimal sehr schnell auf- und abbauen. Mit den bekannten Risiken der Technik – denn wenn mal der Wurm drin ist…Oh je!
„Klar, kein Problem!“
Immerhin: In der Backstage gibt es prima Essen und ich treffe dort einen ehemaligen Schüler, der inzwischen bei Band eins spielt.
Erstes Set: Kein Problem. Abbau: Kein Problem. Band eins spielt, danach bin ich wieder dran.
Zu meiner Erleichterung: Aufbau wie bei einem Hollywood-Spezialkommando – kein Problem! Vivaldi? Geht super! Immer schön die Loops und Effekte obendrauf. Als hätte ich nie was anderes gemacht.
Noch mal Abbau. Noch mal Aufbau. Kein Problem. Warum ich mein Zeug nicht einfach stehen lassen konnte? Weiß ich auch nicht mehr. Gute Frage. Irgendeinen Grund gab es wohl.
Dann die Zeit, wo eigentlich der Hauptact hätte spielen sollen. Ich nutze die Gelegenheit und spiele Musik, die die Rathaushalle sicherlich noch nie gehört hat: „Beckett & Taylor“, „atom tm“, „Akufen“ und „Captain Comatose“. Den Leuten gefällt´s. Und darauf kommt es ja auch irgendwie an. Die Musikauswahl ist zugegebenermaßen etwas bizarr – aber irgendwie auch genau richtig für dieses Ambiente. An diesem Abend lief es dann doch noch alles wie am Schnürchen. Und als die Saalordner mir irgendwann ein Zeichen gaben, der Feierabend werde nun langsam eingeläutet – holte ich das wunderbare 7-Minuten-Stück „Deep Bunt“ von Pepe Braddock hervor, kletterte von der Bühne, ordnete mich brav in die Schlange an der Bar ein, bestellte mir einen kühlen Riesling und trank den ersten Schluck mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Der Streß des Tages perlte an mir herab. Nicht wegen des Weins. Sondern wegen der Erfüllung einer sehr heiklen Mission. Traurigerweise lösen Live-Auftritte bei mir fast nie eine emotionale Reaktion hervor (ein Grund, warum ich das Live-Spielen eingestellt habe…). Alles Routine. Aber hier? Warme, nachhaltige Zufriedenheit.
Und dann stehe ich wieder mit dem Glas in der Hand auf der Bühne und ein letzter guter Gedanke zuckt durch mein Gehirn: „Nimm dieses Glas mit nach Hause!“. Gesagt, getan.
Das Glas hat inzwischen einen Spitznamen bekommen: „Der Rathaus-Pokal.“ Und jedes Mal, wenn ich das Glas benutze, denke ich an diesen Abend zurück. So wie heute. Und schon mehrfach habe ich mir gedacht: Diese Geschichte müßte ich mal aufschreiben. Aber ich weiß immer noch nicht genau, was eigentlich „die Geschichte“ ist. Im Kern: Mittags totale Katastrophe – abends Triumph? Vielleicht kann man das nur nachvollziehen, wenn man versteht, dass ich mittags quasi mit leeren Händen dastand und abends eine adäquate Show abgeliefert habe. Wäre es anders gewesen, wenn es nicht im Hamburger Rathaus stattgefunden hätte, sondern in einer Bar in Hannover? Vermutlich. Eines ist in jedem Fall klar: Es war kein ganz normaler Arbeitstag.
Zum Schluß: Ich halte das geklaute Glas in Ehren. Passe beim Trinken darauf auf, dass es nicht zu nah an der Tischkante steht und beim Abwaschen (von Hand) vermeide ich starken Druck mit der Spülbürste. Beim Schreiben dieses Artikels war es/er mit „Vinho Verde“ aus Portugal gefüllt. Dazu hätte ich auch einiges zu erzählen. Aber nicht heute.